Siemensstadt

Anfang des Jahres warfen René und ich einen Blick auf unsere Berlin-Karte. Wir stellten fest, dass wir den (wahren) Westen Berlins bisher fast schon sträflich vernachlässigt haben. Charlottenburg, Westend, Siemensstadt – schöne Ecken, typische Ecken, dreckige Ecken. Mit bestimmten Bildern und Motiven im Kopf entschieden wir uns für die Siemensstadt – und wurden dann von der Pandemie ausgebremst. Lockdown, Home Office, Schulschließung, Landflucht, Sommerferien, Lockerungen, goldener Herbst, kältere Temperaturen und jetzt rapide steigende Infektionszahlen. Keine leichte Zeit für Körper und Seele, für die physische wie mentale Gesundheit. Keine leichte Zeit, wenn die Gedanken oftmals bei geliebten Menschen sind, die von der COVID-19-Pandemie stark beansprucht werden. Menschen, um die man sich sorgt. Menschen, die einem am Herz liegen. Umso wichtiger ist es in dieser Zeit, trotz aller Widrigkeiten Dinge zu tun, die einem Spaß machen und die Perspektive wieder einmal neu justieren.


Siemensbahn

Anfang Oktober war es dann soweit: Doppelzett in Siemensstadt! Das gute Wetter haben wir in Schöneberg und Neukölln gelassen und machten uns bei wolkenverhangenem Himmel gen Westen. Der Ortsteil von Spandau trägt eine reichhaltige Stadtgeschichte in sich. Alleine der Name lässt schon auf (s)eine industrielle Vergangenheit schließen. Seit 1914 heißt das Areal zwischen Nonnenwiesen, Hühner-Werder, Rohrbruch und der Jungfernheide Siemensstadt, nachdem die über Berlin verstreuten Standort des Unternehmens zusammengezogen wurden. 7.000 Einwohner:innen und satte 23.000 Beschäftigte tummelten sich tagtäglich in dem neu erschaffenen Gebiet.

„Dort hinter der Spree erheben sich gewaltige Gebäude in rotem Backsteinbau; vier- und fünfstöckige Gebäude von mehreren hundert Metern Front und lange Maschinenhäuser dehnen sich aus. Ein Kanal führt bis zu den Werken und unzählige Eisenbahnschienen durchqueren die weiten Gelände. Das ist die Siemensstadt.“

Anzeiger für das Havelland, 1. August 1913

1929 erhöhte sich die Zahl der bei Siemens beschäftigten Menschen auf 90.000. Nicht nur, aber vor allem für sie, wurde eine eigene S-Bahn gebaut. Die landläufig als Siemensbahn bekannte Strecke verlief von Jungfernheide bis Gartenfeld. 17.000 Menschen benutzten sie im Fünf-Minuten-Takt, um dann unter anderem auch am Wernerwerk auszusteigen. Trubel, Geschäftigkeit, Berlin auf dem industriellen Weg nach oben. Dies hielt auch nach dem Krieg an, auch wenn es bis 1956 dauerte, bis die Spreebrücke nach der Zerstörung im 2. Weltkrieg wieder zweigleisig befahren werden konnte.

Gute 25 Jahre später war dann Schluß: Im September 1980 wurde der Verkehr auf der Linie eingestellt. Nicht nur hatte sich Siemens längst für München als neuen Konzernsitz entschieden, auch der Reichsbahnerstreik setzte der Verbindung ein Ende. Wobei, eigentlich war es der damalig schon erfolgte Ausbau der U7, der den Ortsteil mit einer moderneren und schnelleren Anbindung versorgte.


Siemensdamm

Oktober 2020, Doppelzett am U-Bahnhof Siemensdamm. Unter dem U-Bahnhof befindet sich immer noch ein Luftschutzbunker. Kaum einer der Anwesenden wird dies noch wissen, doch erkennen kann man es unweigerlich an den markanten Lüftungsschächten.

Unterirdisch wird der von Rainer G. Rümmler entworfe Bahnhof von runden Wandbildern geprägt, die die Erfolge von Siemens zeigen. Überirdisch prägen die am östlichen und am westlichen Ende stehenden, sechs Meter hohen Luftfiltertürme die Optik.

Alf-Tobias Zahn in „Nächster Halt: Siemensdamm“

Die Gegenwart in Siemensstadt hat es in sich. Zumindest wenn man wie wir von diesem teils brachialen Aufeinandertreffen von Stadt und Mensch fasziniert ist. Der Stadtteil hat sich gewandelt. Siemens ist weg, viele Beschäftigte ebenfalls. Spandau liegt fernab von hippen Meilen und bietet für das touristische 1×1 von Berlin wenig Anlaufpunkte. Dafür haben sich hier die Kaufmeilen und Poccos breit gemacht, die mit den wenigen noch verbleibenden Eckkneipen und Currywurst-Buden ein für das Auge manchmal schwer zu ertragendes Potpourri ergeben. „Dit is Berlin“ eben auch.

Heute ist eine neue Generation mit Kindern hier zu Hause und kaum einer arbeitet noch bei Siemens. Aber die alten Leute begannen bald zu erzählen: von der „guten alten Zeit“, als Siemens alles bestimmte: Kindergarten, Schule Ausbildung, Beruf, Vereine, Wohnungen – alles war Siemens.

Lutz Oberländer im Interview mit dem Tagesspiegel

Entlang der Nonnendammallee Richtung Haselhorst – und damit auch Richtung Havel – reihen sich die typischen Geschäfte aneinander. Leerstand ist auch hier vorhanden, aber im Gegensatz zu anderen Bezirken spürt man hier diesen Bedeutungsverlust des Stadtteils auf jedem Meter. Niemand zieht in diesen Teil der Siemensstadt auf Grund des Lebensgefühls, der tollen Aussicht oder den top sanierten 4-Zimmer-Wohnungen. Hier wird gelebt, weil man in einer Stadt wie Berlin irgendwie überleben muss, egal wie wenig man am Ende des Monats noch übrig hat.


Menschen

3,7 Millionen Menschen leben in Berlin. In Neukölln, Kreuzberg, Mitte – den hippen Stadtteilen mit den fancy Cafés und den hübschen Menschen. In Gesundbrunnen, Schöneweide, Siemensstadt – den Bezirken, die von all dem Trubel um Berlin als Weltmarke im steten internationalen Metropolen-Wettstreit nichts abbekommen. Mit den Tele-Cafés direkt neben der Spielhalle, mit den Imbissen unter Brücken und den kulinarischen Genüßen in Rot-Weiß, mit der noch nicht weg gentrifizierten Eckkneipe und dem Bier vom Faß für 1.80 EUR. Ist das das von Nostalgikern und Teilen des Feuilletons als „ehrlich“ oder „echt“ bezeichnete Leben?

Die Zuschreibung ist, so mein Eindruck, irreführend. Was ist schon ehrlich, was ist schon echt? Wer mag eine Definition liefern? So viel kann ich sagen: Vor Ort merkt man, wo man ist. Man weiß, was einen erwartet. Man weiß, wen man sehen wird. Den Mann mit der Kippe im Mundwinkel und abgestützten Armen auf einem Kissen, vom Balkon aus die Szenerie beobachtend. Die Frau, die bei Pocco im Angebot viel zu viel Tupperware mitnimmt und ihrer Tochter später vorbeifahren wird. Das Paar, dass an einer vielbefahrenen Straße sitzt und der Hauch von aufkommender Romantik im Straßenlärm untergeht – und sie definitiv auch nicht romantische Gedanken hegen. Die Imbissbesitzerin, die natürlich auch ihre eigene Currywurst isst und sich deswegen auch keine Sorgen um ihre Kunden macht, so lange die weiterhin kommen. Der Mann, der auffällig unauffällig zwei Männer dabei beobachtet, wie sie Fotos von Klamotten machen.

In diesen Momenten treffen Welten aufeinander, die sonst fein voneinander separiert stattfinden und eigentlich keine Schnittmenge haben. René und ich sind in solchen Momenten, die wir auf unseren Touren immer wieder erleben, Beobachter und Beobachtete zugleich. Diese Begegnungen lösen Irritationen aus, manchmal auch Neugierde und ab und an auch Heiterkeit. Ein gutes Gefühl.


Kleidung

Im Gepäck hatten wir im Rahmen unserer Kooperation mit LOVECO zwei Outfits. Ganz im Zeichen des Herbstes haben wir gemeinsam mit den Kolleginnen des Fair Fashion Stores diese Ende September zusammengestellt:


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Fotos: René Zieger

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