Manchmal kommt es einfach anders, als man das geplant hat. Das passiert René und mir schon öfter, wenn wir als Doppelzett durch Berlin streifen und uns Orte aussuchen, die wir porträtieren wollen. Wir haben eine Vorahnung, wie Orte sind, was wir dort zu sehen bekommen und auch wie Menschen sich verhalten. Unsere Geschichte von der Rummelsburger Bucht sollte eigentlich vom Ausverkauf Berlins handeln, von Refugien des Andersseins und Anderslebens, die aufgegeben werden, von moderner Stadtarchitektur, die langweilig, beliebig und berechenbar ist. Und hätte ich es geschafft, diese Geschichte einige Wochen nach unserer Tour Ende Oktober zu schreiben, dann wären diese gerade genannten Themen auch im Mittelpunkt gestanden. Doch es kam anders.
Nicht nur, weil ich Woche für Woche den Text aufschob. Nicht nur, weil sich rund um die Rummelsburger Bucht Ende 2019 noch einiges in der Stadtpolitik verschob. Und auch nicht nur, weil ich selbst nach dem Jahreswechsel zwar einige Fotos aus der Fotostrecke für mein Silvester-Outfit und für die leichte Regenjacke von JECKYBENG veröffentliche konnte, aber zum eigentlichen Artikel nicht kam. Sondern eben auch wegen unserer aktuellen Situation, der Corona-Pandemie. Unserem „neuen“ Leben in Home-Office und Home Schooling, kurz: Im neuen Home Living. Und ich muss zugeben, dass es sich seltsam anfühlt, genau jetzt an diesem Artikel zu arbeiten. In einer Zeit, in der wir nur noch als Familie oder Haushalt oder zu zweit unterwegs sein dürfen. In einer Zeit, in der die Straßen manchmal wie leergefegt, dafür die Uferpromenaden und Bänke voller sind als an normalen Tagen. In einer Zeit, in der man (glücklicherweise) weniger an das eigene Outfit denkt, sondern an die Menschen, die hinter den Marken stehen und gerade in der Slow Fashion unter den aktuellen Geschehnissen extrem leiden.
Dennoch ist es einen Versuch wert, eine Geschichte zu erzählen, die fotografisch vor Covid 19 entstand, in Gedanken schon erzählt wurde und jetzt nicht losgelöst von dieser Krise bestehen kann.
Aquapark statt Brache
XVII-4 „Ostkreuz“ – mit dieser Abkürzung haben die Bewohnerinnen und Bewohner der Rummelsburger Bucht zu kämpfen. Genauer geht es um die Bebauung rund um den Rummelsburger See. Dort soll, so der Willen der Stadt sowie der Betreiber, die Coral-World entstehen – ein wässriges Monstrum aus längst vergessenen Massen-Entertainment-Zeiten. Dank des Bebauungsplans XVII-4 „Ostkreuz“ wird auch das letzte noch unbebaute Stück am Ufer des Rummelburger Sees also verplant. Der Widerstand gegen das Riesenaquarium, weitere Büros und vor allem hochpreisige Mietwohnungen wächst von Jahr zu Jahr. Nicht nur, aber auch angesichts des Mangels an bezahlbarem Wohnraum, Schul- und Kitaplätzen in Lichtenberg, so Journalist Jonas Wahmkow in seinem taz-Artikel „Viel Rummel, wenig Hoffnung“. Darüber hinaus: „Die Pläne des Bezirks stießen bei vielen Anwohner*innen auf Unverständnis – besonders, weil es sich bei der Fläche um ein vormals landeseigenes Grundstück handelt, das deutlich unter Marktwert an verschiedene private Investoren verkauft wurde.“
Der Bebauungsplan sah die Arbeiten am Areal für das Frühjahr vor. Die Corona-Pandemie machte diesem Vorhaben allerdings einen Strich durch die Rechnung. Aktuell sind von den Bauarbeiten an dieser Stelle nichts zu sehen. Dabei sind auch ohne Covid-19 noch viele Fragen offen.
Obdachlosigkeit mit Townhouse Flair
Das große Lager auf dem Gelände ist nicht zu übersehen. Obdachlose haben sich hier einen Platz genommen, der überhaupt nicht für sie bestimmt war, aber auch niemand sie von dort weggejagt hat. Die einstmals vorhandene Förderung der Kältehilfe, die dem Platz unter anderem Toiletten ermöglichte, gibt es seit letztem Jahr nicht mehr. Die Menschen sind auf sich alleine gestellt – das macht die Stimmung vor Ort nicht besser. Neben hygienischen Problemen kommen auch menschliche Mißverständnisse und Auseinandersetzung hinzu. Die große Frage ist: Was passiert mit diesen Menschen, wenn der Ort auf Grund der Bauarbeiten geräumt werden muss? Gibt es Ausweichplätze? Würden die Menschen diese annehmen? Wie lange würden diese vom Senat unterstützt?
Das Ufer ist aber beileibe nicht die einzige städtebauliche Sonderbarkeit in und an der Rummelsburger Bucht. Wobei man sich sicherlich über den durchaus häßlichen Aquapark nicht streiten wird (auch für neutrale Beobachter ist und bleibt der ein unschönes Bauwerk), über das Modern Living Gefühl zwischen Industrie-Bauten aber schon eher. Viele Menschen mögen diesen Abschnitt der Rummelsburger Bucht, da dieser ausgezeichnete Lebensqualität, Nähe zum Wasser, ruhige Straßen und eine halbwegs passable ÖPNV-Anbindung bietet – wenn man eben in langweiligen, vorgeformten Townhouses leben möchte, die durch Straßen getrennt sind, auf denen wirklich nichts pulsiert außer den Sandkörnern, wenn der SUV darüberbrettert. Wer sich für diesen Wohn- und Lebensentwurf entscheidet, erwartet von Berlin und sich selbst nicht mehr allzuviel .
Wie ist die aktuelle Situation an der Rummelsburger Bucht?
Gemäß Artikel 61 der Verfassung von Berlin hatte sich das Abgeordnetenhaus in der 55. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses am 5.3.2020 unter anderem mit den Bebauungsplänen und dem Verkauf öffentlicher Liegenschaften an der Rummelsburger Bucht beschäftigt. Die Volksinitiative hatte im Herbst 2019 das dafür notwendige Quorum erreicht. SPD, Linke und Grüne hatten dazu nun einen eigenen Entschließungsantrag vorgelegt. Die drei Koalitionsfraktionen wiesen dabei darauf hin, dass der bestehende Bebauungsplan rechtlich verbindlich sei und bezeichneten es als Lehrstück dafür, dass man in Zukunft mit dem Verkauf öffentlicher Liegenschaften vorsichtiger umgehen müsse.
Spaziergang zu zwei:
Die Rummelsburger Bucht und das am Ufer angrenzende Wohngebiet gehört zum Bezirk Lichtenberg. Wer das Gebiet erkunden will, der kann mit Roland Klein von der Morgenpost einen kleinen Spaziergang wagen und wird einige Ansichten aus dieser Fotostrecke wiedererkennen.
Weiterlesen:
- Deutschlands größtes Obdachlosencamp – So wollen die Menschen in der Rummelsburger Bucht den Winter überleben von Lisa Kim Nguyen
- Waterfront Rummelsburger Bucht – Modern living in historical building (Guthmann Estate)
- Volksinitiative „Rummelsburger Bucht für alle“
- Initiativen rund ums Ostkreuz
Fotos: René Zieger