Der absolute Clusterfuck mit Temu und Shein

Mit Sicherheit habt ihr die Werbung von Temu schon gesehen. Eine der vielen Anzeigen von Temu, dem neuen Giganten am Himmel der Online-Marktplätze. Mit einem korrespondierenden gigantischen Marketing-Budget drängt das chinesische Unternehmen in den deutschen Markt. Die Folgen sind auf vielen Ebenen verherrend.

Günstig, Günstiger – Temu

Von Temu erfuhr ich zum ersten Mal über meine Tochter. Mit mehreren Freundinnen wollte sie Schmuck selber machen und verkaufen. Sie suchten via Google nach passenden Anhängern, Verschlüssen und Ketten. Temu hatte all dies zu einem unfassbaren günstigen Preis, bei dem selbst bestehende Billig-Anbieter teuer erschienen und Kreativ- und Bastelläden in Innenstädten keine Chance bei Konsument*innen haben. Danach war für uns klar: Temu ist der neue große Player, der wirklich alles zu viel zu niedrigen Preisen anbietet.

Temu hat einen unglaublichen Vorteil: Sie müssen nicht rentabel sein. PDD Holdings, der Mutterkonzern, pumpt Milliarden in die Marktverbreitung der App in Europa. Ziel ist es nicht, Gewinne einzufahren. Ziel ist es, die Bekanntheit von Temu zu steigern und bei Kund*innen das positive Bewusstsein für extrem niedrige Produkte, die in China produziert werden, zu beeinflussen. Auf den ersten Blick geht die Strategie auf: 2023 war laut Financial Times ein herausragendes Jahr mit einer Verdopplung der Erlöse für PDD Holdings.

Offizielles Pressematerial von Temu

Mit psychologischen Tricks Klickimpulse schaffen – die Temu-App

Temu ist nicht einfach nur ein weiterer Marktplatz. Temu ist in kurzer Zeit der Platzhirsch geworden, den jede*r idealerweise in der Hosentasche mit dabei hat – über die eigene App. Die Journalistinnen Marie Bröckling und Daniel Koschera haben für das ZDF-Reportage-Format „Die Spur“ in ihrer kurzweiligen Dokumentation „Der Temu-Hype“ die Hintergründe zur App mit Interview-Partnern aufgeschlüsselt.

Die Kurzfassung: die App setzt auf eine vollständige Reizüberflutung bei den Kund*innen, animiert radikal wie agressiv zum sofortigen Kauf von Produkten und setzt dabei Mechanismen wie Dark Patterns ein:

Dark Patterns sind manipulative Designs oder Prozesse, die Nutzer:innen einer Website oder App zu einer Handlung überreden sollen. Dark Patterns werden häufig verwendet, um an Ihre persönlichen Daten zu kommen oder Ihnen Abonnements und andere Verträge unterzujubeln.

Verbaucherzentrale.de (Deeplink)

Davon abgesehen geben Nutzende der App die Einwilligung, dass eigenständig und intransparent Screenshots vom eigenen Mobile angefertigt werden dürfen. What the hack?

Auch wenn dieser Umstand Wasser auf die Mühlen auf gängige Verschwörungsmythen über die chinesische Regierung und chinesische Unternehmen ist, muss ich an der Stelle festhalten: Diese AGBs stehen den Möglichkeiten, die wir Social Media User Meta und TikTok einräumen in nichts nach – und das heißt bereits einiges. Der Ausverkauf der persönlichen Daten geht mit der Temu-App noch einen Schritt weiter.

Der Temu-Hype beschäftigt den Zoll vor allem bei der Luftfracht – der gute alte Weg über Häfen hat ausgedient. Foto von Kelly / PEXELS

Die Sache mit dem Zoll

Auch wenn die Zahlen bislang für Deutschland nur Schätzungen sind, ist die schirre Masse unfassbar. Temu soll laut WiWo-Bericht bis zu 400.000 Pakete täglich nach Deutschland schicken. Das alles über die Luftweg. Dabei werden bis zu 4.000 Tonnen Waren pro Tag geliefert. Im Artikel wird Apple als Vergleich herangezogen: Dort werden 1.000 Tonnen Waren pro Tag versendet. Diese neue Qualität im Versand-Business bringt nicht nur die weltweit verfügbaren Frachtkapazitäten an seine Grenzen, auch der Zoll hat einiges zu tun: Wie das ARD-Magazin plusminus in einem Beitrag zeigte, versucht Temu (genauso wie Shein), Zollgebühren zu sparen, in dem zum Beispiele mehrere Produkte aus einer Bestellung einzeln versendet werden oder sogar ein einzelnes Produkt in mehrere Teillieferungen aufgeteilt wird. Ziel dahinter ist, die Zollgebühren in Europa zu umgehen. Die Folge dieser Praxis: Nicht nur ein erhöhtes Aufkommen bei vielen europäischen Zoll-Stationen, sondern auch ein immenses Versandaufkommen insgesamt.

Weitere Hintergründe hierzu sind auch in diesem Reuters-Beitrag nachzulesen.

Offizielles Pressematerial von Shein

Shein und die Ultra Fast Fashion

Seit einigen Jahren hat sich ein weiteres chinesisches Unternehmen in Europa einen führenden Platz erobert: Shein. Der Modegigant hat in kürzester Zeit den Begriff der Ultra Fast Fashion geprägt und treibt das Spiel mit den modischen Wünschen von Gen Z auf die Spitze:

Mit unglaublichen 6.000 manchmal sogar 9.000 neuen Artikeln pro Tag auf der Homepage und in den Social-Media-Kanälen befeuert der größte Online-Textilhändler SHEIN den Durchlauf in den Kleiderschränken weltweit. Die Zielgruppe: Kinder bis junge Erwachsene. Wie dreckig die Produktion ist, zeigt ein neuer Report von Greenpeace Deutschland: 15 Prozent der von Greenpeace ins Labor geschickten Artikel enthalten mehr schädliche Substanzen als die EU erlaubt.

Greenpeace.de (Deeplink)

Auch wenn sich Shein mit Pressemitteilungen zu umweltverbessernden Maßnahmen schmückt, so ist eines qua Geschäftsmodell bereits klar: Shein setzt auf Masse, Überproduktion und Wegwerfprodukte. Wie soll eine Bindung zu einem Kleidungsstück entstehen, wenn es nur wenige Euros kostet? Wie sollen vor allem junge Menschen den Wert von fairer und guter Mode verstehen können, wenn sie von dessen Ultra Fast Fashion Konkurrenz überschüttet werden?

Kleine cineastische Anleihen: Mir erscheint das vergleichbar mit Mario Adorfs Drohkulisse als Fabrikant Heinrich Haffenloher in Kir Royal, der Sensationsreporter Baby Schimmerlos (Franz Xaver Kroetz) nüchtern und sanft unter Druck setzt. Haffenlohers Geld ist Sheins Billigware.

Wer von uns hätte gedacht, dass einmal H&M, Zara und Primark nicht mehr an der Speerspitze der umweltzerstörenden Modemarken stehen, die keine existenzsichernden Löhne bezahlen, minderwertige Materialien verarbeiten und Mode zu Dumpingpreisen verkaufen – und eben nicht von besseren Modeunternehmen abgelöst, sondern auch noch von der Konkurrenz unter- bzw. überboten werden?

„Made in China“ als Makel?

In der Diskussion über Temu und Shein ist es wichtig, nicht in ein Länderbashing zu verfallen. „Made in China“ ist nicht per se schlecht. LOVECO hatte zu dieser unterkomplexen Betrachtung des Problems bereits 2018 einen sehr lesenswerten Beitrag verfasst, den ich an dieser Stelle sehr empfehle. Wichtig ist es, vor allem auf Zertifikate zu achten und sich darüber zu informieren, wer, wie und wo das neue Kleidungsstück produziert wurde. Auch wenn dies beim Kauf in einem Laden oder online noch einige Minuten mehr in Anspruch nimmt, sollte es uns das nicht Wert sein?


Gibt es nicht schon genug Auswahl für Konsument*innen? Foto von Stanislav Kondratiev / PEXELS

Wann überwinden wir diesen Clusterfuck?

Am Ende dieser kurzen Betrachtung von Temu und Shein möchte ich drei sehr wichtige Fragen von Medina Imsirovic aus dem Fashion Changers Magazin in den Fokus rücken:

Wie können weiterhin derart absurde Gewinne erzielt werden – auf Kosten von anderen Menschen und der Umwelt? Wie kann die Politik solche Ausbeutung noch zu lassen? Wann werden wir anfangen, den Erfolg eines Unternehmens nicht an dessen Wirtschaftswachstum zu messen, sondern beispielsweise an sozialer Verantwortung und Zufriedenheit der Mitarbeitenden?

Fashionchangers.de (Deeplink)

All dies werden wir erst dann beantworten können, wenn wir das bestehende Wirtschaftssystem überwunden haben und die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger*innen sich mit dem Gedanken anfreunden können, dass Wirtschaftswachstum nicht die entscheidende Kriterium für das Wohlergehen unserer Gesellschaft sein darf.

Wenn es nicht nur partielle nationale Lösungen geben wird, sondern gesamteuropäische Anstrengungen.

Wenn wir in eine Postwachstumsgesellschaft aufbrechen, in der Degrowth nicht als Dystopie wahrgenommen wird.

Wenn wir die Mechanismen hinter Marketing-Kampagnen entschlüsseln, den Dopamin-Kick auf andere Weise erfahren und uns einem kritischen, aber noch vorhandenem Konsum hinwenden können.

Wenn Menschen mehr Wert sind als unsere Waren.


Schreibe einen Kommentar